Ist eine Bildaussage Pflicht?
Bei einem Blog über Fotografie hatte ich einen Kommentar abgegeben, in dem ich auf das Thema Bildaussage hinwies. Der Beitragsautor antwortete, dass er über „Bildaussage“ nicht so viel reden wolle. Die sehe er bei normalen Bildern so gut wie nie in Fotowettbewerben. Man solle es beim Handy vorläufig nicht schon wieder als Pflicht sehen.
Der Autor ist in der Amateurfotografie sehr erfahren, er war 25 Jahre Redakteur bei einer Fotozeitschrift. Ich wunderte mich sehr, dass ein fachkundiger Fotograf in Wettbewerben kaum Bilder mit einer Bildaussage gesehen hat und das Wort in Anführungszeichen setzt. Daher möchte ich dieses Thema hier in einem eigenen Blog-Beitrag behandeln.
Dabei versuche ich möglichst konkret zu werden. Das Bild „5 Empfänger #1“ soll als ein Beispiel dienen. Hat das Foto eine Bildaussage? Was ist die Grundlage? Ist der Inhalt oder die Form relevanter?
„Bildaussage… völlig überbewertet!?“ lautet der Titel eines Blog-Eintrags von C. Hollywood. Er führt aus, dass seine Bilder keine Geschichten erzählen müssen, sondern einfach nur durch Abbild, Model, Outfit, Geste oder Bearbeitung wirken sollen. Der Betrachter müsse so lange wie möglich gefesselt werden. Typische Werke von C. Hollywood, der sich auf seiner Website als Fotokünstler / Digital Artist vorstellt, sind Porträts mit stark herausgearbeiteten Kontrasten.
Die Gestaltung eines Bildes ist ungleich wichtiger als der Inhalt, ist eine der Aussagen von M. Kriegelstein, die er als Tipps zur Vorbereitung auf die Deutsche Fotomeisterschaft 2012 gibt. Er stellt weiter fest, dass die interessante Situation nicht in der Verantwortung des Fotografen liegt, sondern dies Zufall oder Schicksal ist. Der Fotograf sei für die Umsetzung verantwortlich und nur das gelte es zu bewerten.
Gute Gestaltung ohne Inhalt ist purer Formalismus und kann niemanden begeistern, lautet die Replik von J. W. Dettmer in der folgenden Ausgabe des DVF-Journals. Der Deutsche Verband für Fotografie ist der größte Zusammenschluss für Amateurfotografen in Deutschland. Diese Diskussion über Gestaltung und Inhalt von Wettbewerbsbildern führte zu einer ungewöhnlichen Flut von Leserbriefen, die sich über sechs Ausgaben des DVF-Journals erstreckte.
Autoren stellten vielschichtige Betrachtungen zu diesem Themengebiet an. Nach A. Feininger ist ein Bild, das etwas aussagt auch dann anregend, wenn es in technischer Hinsicht fehlerhaft ist. Ein Bild ohne Aussage sei, gleichgültig wie vollkommen seine technische Wiedergabe ist, nur visuelles Geschwätz.
Auf diese Fragen geben Wissenschaftler noch keine abschließenden Antworten. Es gibt kein geschlossenes Regelwerk der Foto-Theorie. In wissenschaftlichen Betrachtungen werden jeweils nur Teilaspekte behandelt. Ich habe versucht, den aktuellen Stand zur Bildinterpretation in einer Grafik zu bündeln. Das von mir erarbeiteten Schema soll die Kern-Aussage verdeutlichen:
Inhalt (Bildbeschreibung) und Form (Bildanalyse) bilden die Grundlage für die Aussage (Bildinterpretation).
Ein einzelnes Kriterium hat keine Aussagekraft. Erst durch die gemeinsame Interpretation der einzelnen Komponenten von Inhalt und Form ist eine vollständige Betrachtung eines Fotos möglich. Inhalt und Form können unterschiedlich gewichtet sein, d.h. Bilder ziehen ihre Aussage dann vorwiegend aus dem Inhalt oder auch aus der Form.
Bilder der Stock-Fotografie dienen nur als Blickfang. Diese Schmuckbilder haben einen dekorativen Zweck. Eine inhaltliche Bedeutung ist eher schädlich. Diese Bilder bilden ihre Aussage aus einer perfekten Form. Bei einem Reportagefoto von einem Kriegsschauplatz hingegen, bei dem Unschärfe die Authentizität unterstreicht, bestimmt vorwiegend der Inhalt die Aussage.
Aus diesen gegensätzlichen Beispielen wird deutlich, dass die Relevanz der Bildaussage von dem jeweiligen Anwendungsgebiet des Fotos abhängt. Das Foto vom Kriegsschauplatz könnte in der Rubrik Politik einer Zeitung stehen. Als redaktionellen Bildbeitrag kann es eine wichtige Aussage haben. Stockfotos schmücken häufig unterhaltende Magazine. Für den Leser kann ein solches Bild eine passende Aussage haben, die er aus der unterhaltenden Wirkung zieht. Das Stockfoto hat also auch eine Aussage, die es aber vorwiegend aus der Form und nicht aus dem Inhalt bildet.
Mit dieser Methodik wird bis zu einem gewissen Grad Objektivierung erreicht. Bildinterpretation und -bewertung bleiben aber zu einem wesentlichen Anteil subjektiv, da die Betrachtung gruppen-, situations- und kulturabhängig ist.
Um die bisherigen theoretischen Betrachtungen zu konkretisieren, werde ich versuchen, zwei eigene Fotos zu interpretieren und eine Bildaussage in verkürzter Form zu skizzieren.
Das Bild „5 Empfänger“ habe ich als Amateur fotografiert. Ich verfolge damit keine kommerziellen Ziele. Das Foto gehört also zum Anwendungsbereich Amateurfotografie und es ist aus dieser Sicht zu interpretieren. Es ist auch denkbar, dass ein ähnliches Foto für dokumentarische Zwecke entsteht. Architekten könnten damit Architekturdetails für Planungszwecke visualisieren. Im Rahmen der Dokumentarfotografie wäre das Bild anders zu deuten. Es würde eine andere Bildaussage entstehen.
Ich versuche mit meinen Fotos etwas Neues zu bieten. Das kann man aber nur beurteilen, wenn man weiß was die üblichen Motive der Amateure sind. Bei meinen „Marktforschungen“ sind mir bisher ähnliche Bilder nicht aufgefallen. Aus meiner Sicht ist das Motiv der „5 Empfänger“ also noch nicht abgenutzt.
In dem Haus scheint man komfortabel zu wohnen. Die Wände wirken wie neu gestrichen, der Putz hat keine Risse. Die Treppe ist sauber, sie sieht frisch gereinigt und unbenutzt aus. Die einzigen Spuren der Bewohner sind an den Briefkästen zu erkennen. Die Mieter haben nach dem Einzug oder nach einer Namensänderung einen Zettel neben das vorgesehene Adressfeld geklebt.
Die flächenhaften Farben sehen harmonisch aus. Wahrscheinlich wirkt hier der Farbkreis in bildlicher Form, das Rot der Treppe, das Grün der Hauswand und das Blau der Treppenwand. Man könnte das Foto auch nach dem Farbraum RGB-Bild nennen. Die gelben Briefkästen betonen zusammen mit der roten Treppe die warmen Farben. Dadurch wirkt der Treppenaufgang einladend. Andererseits fehlen die Gebrauchsspuren, die auf die Bewohner hindeuten. Daher sieht der Aufgang auch etwas abweisend aus.
Für mich bildet sich damit ein zwiespältiger Eindruck. Auf der einen Seite Wohlstand und einladende Farben aber auf der anderen Seite ist kein menschliches Miteinander erkennbar. Obwohl die Briefkästen der Kommunikation dienen, kommt dies im Bild nicht zum Ausdruck.. Aus meiner Sicht deutet das Foto auf einen Aspekt der heutige Lebenssituation: Wohlstand aber mangelnde Kommunikation.
Dies ist eine spezifische Interpretation. Andere Betrachter können ganz andere Bildaussagen ableiten. Dies hängt stark von der jeweiligen Individualität der Person ab. Vielleicht hat sie in einem ähnlichen Haus gewohnt und besonders gute oder schlechte Erfahrungen gemacht, die in die Interpretation eingehen.
Eine ganz spezielle Sicht ist die der Juroren. Das Foto wurde in Wettbewerben häufig prämiert. Ich vermute, dass die Form und nicht der Inhalt entscheidend war. Das Bild wirkt harmonisch und durch die Farben dekorativ. Es ist insbesondere laut genug für eine Jurierung, bei der Fotos im Sekundentakt am Monitor durchlaufen. Der Inhalt kann nur eine untergeordnete Rolle spielen, weil Formeigenschaften leichter messbar und schneller zu bewerten sind. Bei den meisten Fotowettbewerben ergibt sich die Bildaussage vorwiegend aus der Form.
Das Bild „Schaftransport“ kann zu den unterschiedlichsten Interpretationen führen. Schafzüchter in Marokko, wo das Foto aufgenommen wurde, werden die Transport-bedingungen ganz anders bewerten als westliche Konsumenten. Entsprechend unterscheiden sich die Bildaussagen.
Bei Fotowettbewerben hatte ich mit diesem Bild nur sehr geringen Erfolg. Die bei Wettbewerben entscheidende Form gibt nur wenig her. Das Hochformat ist für das Motiv eher ungewöhnlich. Die Spannung, die sich aus der Rolle des Beobachters im PKW ergibt, stört eher. Das Farbspektrum ist eingeschränkt und vor allen Dingen ist das Bild nicht dekorativ. Kritische Bilder sehe ich selten bei Fotowettbewerben.
Nur bei einem einzigen Wettbewerb konnte ich landen. Er hatte das Thema Konsum und daher musste sich die Jury auch mit inhaltlichen Aspekten befassen. Die Bildaussage ergibt sich bei diesem Foto vorwiegend aus dem Inhalt.
Die meisten Betrachter suchen für eine Bildaussage nach wertvollen Inhalten. In Fotos ohne erkennbare inhaltliche Bedeutung wird seltener eine Bildaussage gesehen. Aus meiner Sicht haben Bilder, bei denen die Form wichtiger ist, ebenso eine Aussage. Auch in einem abstrakten Bild kann ein Betrachter abhängig von seinen individuellen Erfahrungen viel erkennen. Für ihn kann das Bild eine große Bedeutung und damit eine wichtige Bildaussage haben. In dem Artikel „Knackscharf – also gut?“ sind weitere Informationen enthalten, z. B. die Bildanalyse aus der Sicht von Wissenschaftlern und Fotografen (zum Artikel).
Jedes Foto hat also auf den jeweiligen Anwendungsbereich bezogen und abhängig vom Betrachter eine Bildaussage. Dabei kann aber das Niveau der Bildaussage sehr unterschiedlich sein. Dies führt zu einem komplexen weitergehenden Thema, zur Bewertung eines Bildes. Das ist eines der Gespenster der Fotografie. Man trifft immer wieder auf die Frage: Was ist ein gutes Foto? Ich glaube, wenn bereits eine Bildaussage vorliegt, hat man die wichtigste Vorarbeit für eine Bildbewertung schon erledigt.
Vorläufig halte ich es eher mit W. Busch. In der Bildergeschichte „Ehre dem Photographen“ bringt er es auf den Punkt: Der Mensch tut’s, der Apparat macht’s und der Photograph verkauft’s! Drum Ehre dem Photographen, denn er kann nichts dafür!