Die Weltmaschine des Franz Gsellmann –
Wimmelbilder fotografieren (2)
In einer ländlichen Gegend der Steiermark nahe der slowenischen und ungarischen Grenze geht ein rechtschaffender Landwirt jeden Sonntag in die Kirche und danach ins Wirtshaus. Dort liest er in einer Regionalzeitung den Bericht über die Weltausstellung im Jahr 1958 in Brüssel.
Soweit ist die Welt noch in Ordnung. Dann sieht er eine Abbildung des Atomiums. Das Modell der Eisen-Kristallstruktur muss ihn wie ein Schlag getroffen haben.
Franz Gsellmann, der bisher kaum über die Oststeiermark hinaus gekommen war, reist mit dem Zug nach Brüssel, bestaunt das Atomium, zeichnet es ab, kauft sich ein Modell des Bauwerks und fährt zurück, ohne zu übernachten. Zu Hause beginnt er ein geheimes Werk in der Stube seines verstorbenen Vaters. Niemand erfährt, was er dort treibt. Acht Jahre lang gestattet er selbst seiner Familie keinen Blick auf seine Tüftelarbeit.
Im letzten Blog-Beitrag berichtete ich über meine erste Besichtigung der Weltmaschine (zum Beitrag). Drei Jahre später besuchte ich erneut die Weltmaschine, diesmal zusammen mit meiner Frau. Ich hatte mir überlegt, wie ich das filigrane Werk als Wimmelbild fotografieren wollte. Da machte die Kamera aber nicht mit. Sie versagte mir ihren Dienst.
Gsellmann beginnt sein Werk, als er bereits 48 Jahre alt ist. Er arbeitet dann 23 Jahren daran und lässt sich in seiner eigensinnigen Art nicht aufhalten. Die Familie macht ihm bittere Vorwürfe, er vernachlässige die Arbeit in der Landwirtschaft. Schuldgefühle plagen ihn, aber er kann nicht anders, er verfolgt seinen inneren Plan.
Er wollte eigentlich Elektriker werden, musste aber für seinen Vater den landwirtschaftlichen Betrieb übernehmen. Seine technischen Fähigkeiten finden, wenn auch verspätet, ihren Weg. Auf Schrottplätzen und Flohmärkten (in Österreich treffend als Fetzenmärkte bezeichnet) sucht er sich genau das zusammen, was er sich in den Kopf gesetzt hat. Der Fotograf Franz Killmeyer, der ihn sechs Wochen durch den Alltag begleitet, schildet, dass er schon erschöpft war, Gsellmann aber unermüdlich nach einem 14 Zentimeter – Bolzen suchte. Er lehnte es ab, einen längeren Bolzen zu kürzen und fand schließlich den passenden.
10 Jahre nach Baubeginn fällt in der gesamten Gemeinde der Strom aus. Der Schmied J. Pregartner weiß sofort die Ursache. Gsellmann hatte ihm kurz vorher seine Installation gezeigt. Der Dorfschmied erkannte wohl den Energiehunger der 25 Elektromotoren.
Tatsächlich, Gsellmann hatte erstmalig die gesamte Anlage mit dem Hauptschalter in Betrieb nehmen wollen. Dafür war das Stromnetz nicht ausgelegt. Es ging vor der 4 Meter langen, 2 Meter breiten und 4 Meter hohen Maschine in die Knie. Das war der unfreiwillige klägliche erste Schritt zum Ruhm von Gsellmann und seinem Werk.
Der Name Weltmaschine stammt nicht von Gsellmann. Er hatte es immer vermieden, seinem Bau einen Namen zu geben. Der Kärntner Landeshauptmann prägte aber die Bezeichnung Weltmaschine, die auch Gsellmann gefiel.
Was ist sie eigentlich, die Weltmaschine? Nur eine Spinnerei oder Spielerei? Oder handelt es sich um Volkskunst oder etwa um ein Kunstwerk? Oder hat Gsellmann sogar eine neue Kunstrichtung mit geprägt?
Stopp. Warum schreibe ich eigentlich so viel über Gsellmann? Interessiert das überhaupt? Meine einzige Rechtfertigung ist: Es fasziniert mich besonders, wenn jemand seine, auch noch so irre wirkende, Idee konsequent verfolgt. Meist halten viele den Querdenker für einen Spinner außerhalb der gesellschaftlichen Norm. Besonders pikant wird es, wenn der vermeintliche Wirrkopf dann letztlich Erfolg hat und aus den größten Kritikern plötzlich glühende Anhänger werden. Frei nach dem Motto: Ich habe es ja schon immer gewusst. Also weiter im Text.
Die Kinetische Kunst, in der die Bewegung das wesentliche Gestaltungselement ist, wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren bekannt. Ein Hauptvertreter dieser Ausdrucksform war der Schweizer Jean Tinguely. Seine Werke entstanden etwa in der gleichen Zeit, als auch Gsellmann mit der Arbeit begann. Als die Weltmaschine über die Grenzen von Österreich bekannt wurde, soll Tinguely in die Steiermark gereist sein, um sich das Werk anzusehen und für seine Kunst anregen zu lassen.
Gsellmanns Maschine ist jedenfalls kein Kunstwerk. Er ist nicht als Künstler anerkannt und sah sich auch nicht so. Aber das ist ein anderes Thema. Vielleicht versuche ich mich zu dieser kontroversen Frage mal mit einem eigenen Blog-Beitrag.
Es gibt sogar wissenschaftliche Betrachtungen über Gsellmann. Am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz entstand eine Dissertation zum Thema „Gsellmanns Weltmaschine – Volkskunst der anderen Art im bäuerlichen Milieu der Oststeiermark“. Die Autorin lernte Gsellmann mit 15 Jahren in ihrem Elternhaus kennen.
Als Volkskunst würde ich Gsellmanns Werk nicht bezeichnen, auch nicht als „Volkskunst der anderen Art“. Die für die Volkskunst typische Grundlage in Tradition und Überlieferung fehlt vollständig. Die Weltmaschine ist auch keine Populärkunst, da sie nicht auf aktuellem Geschehen aufbaut. Das Atomium gab zwar den Anstoß aber eine ähnliche kinetische Installation war Gsellmann nicht bekannt. Auch der Begriff Kunsthandwerk passt nicht, weil die handwerkliche Ausrichtung fehlt. Typisch sind hier z. B. Glasbläser und Goldschmiede, die künstlerische Elemente in ihre Produkte einfließen lassen.
Also passt Gsellmann in keine Schublade. Das macht ihn aus meiner Sicht gerade so interessant. Wenn sich jemand nicht nur innerhalb der etablierten Fachgebieten betätigt, sondern mit einem ganzheitlichen Ansatz ohne Scheuklappen übergreifende Lösungen sucht, entstehen oft sehr wertvolle Ergebnisse.
Der Enkel und die Schwiegertochter des Erbauers der Weltmaschine sicherten den Betrieb. Es gab keinen Bauplan. Über zwei Jahre war der zentrale kugelförmige Teil ausgefallen, weil der Kunststoff der Hula-Hoop-Reifen zerbröselte. Im Oktober 2003 wurde die Maschine nach mehrmonatiger Restaurierung wieder in Betrieb genommen.
Im Juli 2011 bot sich eine gute Gelegenheit, meiner Frau das skurrile Wunderwerk zeigen. Wir ließen die Handwerker mit der Renovierung unseres Badezimmers allein und reisten über Wien nach Graz. Die Besuchergruppe bestand diesmal aus sechs Personen. Die gleiche Dame erläuterte so geduldig wie vor drei Jahren Gsellmanns Werk.
Ich hatte mir diesmal genau überlegt, wie ich dem Wirrwarr fototechnisch zu Leibe rücke. Wahrscheinlich erinnerte sich die Kamera an den ersten Besuch und wollte sich nicht erneut der Herausforderung „Wimmelbild“ stellen. Sie versagte an dem Tag ihren Dienst und meldete „Error 99“. Auch mit Aus- und Einschalten ging nichts mehr. Soviel zur Künstlichen Intelligenz: Die Kamera bewahrte mich wahrscheinlich vor weiteren unmöglichen Fotos.
Die Canon EOS 40D war fast vier Jahre alt und hatte ca. 36.000 Auslösungen. Nach dem Kostenvoranschlag sollte der Verschlussblock für ca. 260 Euro erneuert werden. Die Kulanzverhandlungen waren zwar etwas mühselig aber letztlich erfolgreich. Die Reparatur erfolgt kostenlos. Schließlich war das bereits die dritte Reparatur.
Die erste war bereits zwei Wochen nach dem Kauf erforderlich. Die nagelneue Kamera machte nach dem Einschalten keinen Mucks mehr. Canon lehnte den Austausch gegen eine neue Kamera ab und ich durfte drei Wochen auf die Reparatur warten. Soviel zu meinem furiosen Einstieg in das Fotografieren mit einer Spiegelreflex-Kamera.
Der zweite Defekt trat im Oktober 2010 in London auf. Der zweite Druckpunkt des Auslösers war sporadisch verzögert. Es war sehr nervig, den Apparat immer etwas länger still zu halten. Die Werkstatt kassierte 270 Euro.
Ich schweife zu technischen Fragen ab. Zurück zum Thema. Bei der Weltmaschine ist die Technik ja auch nicht von schlechten Eltern.
Als ich nach der ersten Führung neugierig ums Haus über den landwirtschaftlichen Hof ging, sah ich die auf dem Foto gezeigte geniale elektrische Installation. Ein Überbleibsel von dem Erbauer der Weltmaschine, die Ursache für den totalen Stromausfall in der gesamten Gemeinde oder nur eine zeitlich befristete Ad-hoc-Lösung?